Arbeitsschutz, Audits

Die wichtigsten Kennzahlen im Arbeitsschutz

So verstehen Sie den Status Quo, setzen Ziele und kommunizieren Erfolge

10 Minuten06.07.2021

Sie wollen Arbeitsschutz im Unternehmen kontinuierlich verbessern? Dann ist es wichtig, den derzeitigen Status Quo zu definieren und daraus Verbesserungsmöglichkeiten und Ziele abzuleiten. Key Performance Indicators (KPIs), also Kennzahlen zur Leistungs- oder Performanceüberprüfung, spielen in diesem Prozess eine bedeutende Rolle, denn sie lassen sich gut miteinander vergleichen und ins Verhältnis zu getroffenen Maßnahmen setzen. Dadurch kann die Kommunikation von Schwachstellen und Erfolgen im betrieblichen Arbeitsschutz sichtbar gemacht und verbessert werden. Hier erfahren Sie, welche KPIs häufig genutzt werden und worauf es bei der Auswahl ankommt.

Reaktive oder proaktive Kennzahlen?

Sicherheitsindikatoren im Arbeitsschutz, auch SPIs, Safety Performance Indicators genannt, lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Lagging (nachlaufende, reaktive) und Leading (vorlaufende, proaktive) Kennzahlen. Ähnlich wie es bei den diversen Methoden und Schwerpunkten im Arbeitsschutz wichtig ist, eine gesunde Balance zu finden, empfiehlt es sich, bei der Wahl der Kennzahlen traditionelle Kennzahlen durch moderne zu ergänzen.

Reaktive Kennzahlen sind geeignet, um im Rückblick und im Vergleich mit anderen Unternehmen zu zeigen, auf welchem Level sich der Arbeitsschutz bewegt. Sie beziehen sich auf die gesammelten Daten zu Sicherheitsvorfällen oder -ergebnissen, die bereits eingetreten sind und nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Mit anderen Worten: Sie sind nachlaufend, weil sie sich auf vergangene Ereignisse konzentrieren. Sie geben jedoch keinen Anhaltspunkt darüber, wie eine Verbesserung erreicht werden könnte. Für einen Fokus auf die Zukunft empfiehlt sich daher zusätzlich ein Blick auf sogenannte Leading Indikatoren, also proaktive Kennzahlen. Sie werden manchmal auch als „präventive Kennzahlen“ bezeichnet und unterscheiden sich von Lagging Indikatoren dadurch, dass sie sich nicht auf bereits eingetretene Vorfälle beziehen, sondern auf umsetzbare Maßnahmen oder beeinflussbare Bedingungen, die helfen, zukünftige Vorfälle zu vermeiden.

Lediglich auf nachlaufende Daten zu schauen, bringt uns nicht weiter. Es ist an der Zeit, unsere Denkweise zu ändern. Anstatt in den Rückspiegel zu schauen, müssen wir nach vorne schauen, wo wir hinwollen, anstatt zu versuchen, von dort wegzukommen, wo wir waren.

Andrew Sharman, im Interview für den Safety Management Trendreport 2021

So definieren und tracken Sie Ihre Kennzahlen

Bei der Auswahl von reaktiven oder proaktiven Kennzahlen gibt es keine Pauschallösung, die für jedes Unternehmen gleichermaßen passt. Ein Blick auf Ihre Unternehmenssituation, Ihre Problemstellungen und Ziele sollte die Grundlage für ihre Festlegung sein. Um Vergleichbarkeit, Kontinuität und Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten, sollten alle Ziele, deren Erreichung Sie anhand von Kennzahlen messen wollen, den SMART-Kriterien genügen:

  • spezifisch

  • messbar

  • attraktiv/akzeptiert

  • realistisch

  • terminiert

Beachten Sie neben Ihren Zielen und Problemen auch Ihre derzeitige Sicherheitskultur. Ein großer Teil der KPIs im Arbeitsschutz beruht auf den Meldungen der Mitarbeitenden: Die Belegschaft muss daher transparent über den Sinn und den Einsatz von Kennzahlen informiert werden, um diese im täglichen Betrieb zu verinnerlichen. Außerdem braucht es ein einfaches und verständliches System, über das Meldungen getätigt werden und über das sich Ereignisse tracken lassen. Tracken Sie nur Kennzahlen, bei denen Sie sich sicher sind, dass Sie genügend aussagekräftige Daten erzielen.

3 Kernpunkte für Ihr Kennzahlen-Set:

  • Lagging durch Leading Indikatoren ergänzen

  • KPIs sollten Aussagekraft über Ihre Ziele und Problemstellungen haben

  • Nur KPIs tracken, für die Sie genug aussagekräftige Daten erzeugen

Die beliebtesten Kennzahlen für Arbeitssicherheit

Wir haben für Sie in unserem Safety Management Trendreport herausgefunden, welche KPIs europaweit von Unternehmen am häufigsten gemessen und verwendet werden. Das Ergebnis der Befragung von 629 Fachkräften aus ganz Europa setzt sich wie folgt zusammen:

Die fünf Bereiche sowie Möglichkeiten der jeweiligen Kennzahlenermittlung stellen wir Ihnen hier ausführlich vor:

Gemeldete Unfälle und Vorfälle: Unfallquote

Alle Arbeitsunfälle sind im Verbandbuch zu dokumentieren und zu melden. Spätestens ab einer Ausfallzeit von über drei Tagen oder Tod liegt in Deutschland ein „meldepflichtiger Unfall” vor und der Unternehmer verpflichtet sich, den Unfall seiner Berufsgenossenschaft zu melden. Jedes Unternehmen sammelt somit bereits notwendige Daten zu Unfallschwere und -häufigkeit. In Relation zur Mitarbeiterzahl oder Arbeitsstunden gebracht, lassen die Daten Rückschlüsse über die Qualität des betrieblichen Arbeitsschutzes zu. Diese Relation zeigt sich in der Unfallquote, für die es weltweit unterschiedliche Berechnungsmöglichkeiten gibt.

Um die Unfallquote zu berechnen, gibt es in Deutschland zwei gebräuchliche Formeln: Die 1.000 Mann Quote und die Arbeitsunfallquote.

  • 1.000-Mann-Quote: meldepflichtige Arbeitsunfälle / Mitarbeiter * 1.000

  • Arbeitsunfallquote: meldepflichtige Arbeitsunfälle / Arbeitsstunden * 1.000

Besonders, wenn Sie international tätig sind, ist es sinnvoll, entsprechende Kennzahlen zu nutzen, die den Vergleich vereinfachen. Da es keine international gültige Definition von meldepflichtigen Unfällen gibt, wird mit den Daten zu Personenschäden mit Arbeitszeitausfall (Eng.: Lost Time Injury) gerechnet. Die international gängige Unfallquote ist die Lost Time Injury Frequency Rate (LTIFR).

  • LTIFR: Personenschäden mit Ausfallzeit / Arbeitsstunden x 2.000 (Anstelle des Faktors 2.000 können je nach Unternehmensgröße auch 1.000 oder 1.000.000 gewählt werden)

Unfallfreie Tage

Die Betrachtung der unfallfreien Tage zählt wie die Unfallquote zu den reaktiven KPIs im Incident Management. Dabei drückt sie genau das aus, was ihr Name beschreibt: Die Anzahl an Tagen, an denen es zu keinen betrieblichen Unfällen gekommen ist. Wie der Safety Management Trend Report zeigt, ist es durchaus gängig, diese Kennzahl zu tracken und Erfolge zu feiern. Sie sollten dieser Kennzahl dennoch mit Vorsicht begegnen, denn die KPI kann falsche Anreizstrukturen setzen: Ein auf den ersten Blick positive Steigerung dieser Kennzahl, bedeutet nicht automatisch, dass weniger Unfälle geschehen. Es kann gut sein, dass Ihre Mitarbeitenden Unfälle nicht mehr melden, um zum vermeintlichen Erfolg im Arbeitsschutz beizutragen.

Was man heute oft sieht, sind LED-Anzeigen wie “200 Tage seit der letzten Verletzung” oder “350 Tage seit dem letzten Unfall”. Das ist meiner Meinung nach ein bisschen zu reaktiv. Wenn es einen Unfall gibt, wird die Anzeige auf Null gesetzt und das motiviert die Menschen nicht. Deshalb glaube ich, dass präventive KPIs motivierender sind. [...] Es ist wichtiger, die präventiven Performance Indikatoren zu messen und zu veröffentlichen und auf diese stolz zu sein, als den Fokus auf die reaktiven KPIs zu richten.

Gerd-Jan Frijters für den Safety Management Trendreport 2021

Beinaheunfälle/Near Misses

Als Beinaheunfälle, auch Near Misses genannt, werden in der Regel Vorfälle bezeichnet, bei denen zwar keine Verletzungen aufgetreten sind, aber durch leicht geänderte Umstände oder Abfolge der Ereignisse hätten auftreten können.

Auch hier ist es wenig empfehlenswert eine Ausrichtung auf “null” Vorkommnisse vorzunehmen. Das ist umso mehr ein Grund, die Ergebnisse differenziert zu betrachten: Eine hohe Anzahl gemeldeter Beinaheunfälle muss nicht zwangsläufig ein schlechtes Zeichen sein. Vielmehr kann sie auch für eine funktionierende und offene Fehlerkultur stehen, in der es keine Hemmnisse gibt, einen Beinaheunfall zu melden. Als Verantwortliche im Arbeitsschutz sind Sie darauf angewiesen, dass Beinaheunfälle gemeldet werden, denn nur so haben Sie die Chance, Risiken zu erkennen und rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen. Wiederholt sich ein nicht gemeldeter Beinaheunfall, kann daraus schnell ein richtiger Unfall werden. Das bestätigt auch die Unfallpyramide nach Heinrich, die besagt, dass aus 300 unsicheren Situationen 29 leichte Unfälle und 1 tödlicher oder schwerer Unfall resultieren. Sie verdeutlicht ebenfalls, dass die Erzielung von “null” Beinaheunfällen angesichts ihrer relativen Häufigkeit nicht realistisch ist.

Sinnvoller als das Ziel der Reduzierung dieser Kennzahl ist, das Verhältnis von Beinaheunfällen und Unfällen zu betrachten. Inwieweit entspricht es der Unfallpyramide und was lässt sich daraus schlussfolgern? Mitarbeitende und Führungskräfte sind vielleicht nicht gewillt, jeden Erste-Hilfe-Vorfall im Verbandbuch zu vermerken. Ähnliches gilt für Near Misses. Ein sinnvolles Ziel wäre, eine festgesetzte Prozentzahl aller Near-Misses-Meldungen zu erhalten, die laut Unfallpyramide auf die Unfallanzahl kommen müssten. Der Anstieg der Prozentzahl ist ein guter Indikator für die Verbesserung Ihrer Sicherheitskultur.

Audit- und Inspektionsergebnisse

Eine gute Struktur und Systematik erzeugen in allen Phasen interner und externer Audits Kennzahlen, die Sie bei der Prozessverbesserung von Planung und Durchführung bis hin zur Identifikation und Beseitigung von Nichtkonformitäten unterstützen. Beispielhaft sind in Folgendem einige genannt:

  • Verhältnis von durchgeführten Audits zu geplanten Audits: Dieser Indikator ist ein Wert (Soll-Ist-Vergleich), der anzeigt, wie effektiv in Bezug auf die Zielerreichung ein Unternehmen die relevanten Audits umsetzt. Effektiv ist ein Audit, wenn die Zielquote zuverlässig innerhalb der gewünschten Toleranzgrenzen erreicht wird.

  • Verhältnis von Abweichungen zu Korrekturmaßnahmen: Diese Kennzahl soll Aufschluss über die Qualität der Fehlerkultur im Unternehmen geben. Werden aus Abweichungen keine (oder zu wenige) Korrekturmaßnahmen abgeleitet und umgesetzt, können die gleichen Abweichungen wieder auftreten.

  • Verhältnis von Empfehlungen zu Präventivmaßnahmen: Über diese Kennzahl kann eruiert werden, wie das Unternehmen mit Empfehlungen aus dem Audit umgeht. Werden die Empfehlungen nicht umgesetzt oder dokumentiert, können daraus zukünftig Abweichungen entstehen. Ein entsprechender Fokus auf Präventivmaßnahmen belebt darüberhinaus den KVP (Kontinuierlicher Verbesserungsprozess).

  • Anzahl überfälliger Termine bei der Maßnahmenabarbeitung (relativ oder absolut): In der Regel gibt es bei Audits Empfehlungen oder Abweichungen. Alle Abweichungen sollten bis zum Nachaudit oder dem Folgeaudit beseitigt werden. Die überfälligen Termine geben Aufschluss darüber wie mit der Fehlerkultur im Unternehmen umgegangen wird.

  • Anzahl der Auffälligkeiten bei Zertifizierungs- und Kundenaudits bezüglich des Auditmanagements: Die reine Anzahl der Auffälligkeiten gibt noch keinen Aufschluss über das Managementsystem. Erst wenn die Daten rückwirkend verglichen werden, können Sie Rückschlüsse über die Entwicklung des Unternehmens in den letzten Jahren (ggf. auch auf den KVP) ziehen.

CAPA-System (Corrective action and preventive action)

Mit dem CAPA-System werden auftretende Diskrepanzen, Abweichungen und Fehler systematisch untersucht, Korrekturmaßnahmen (correctiv action) eingeleitet und anschließend Vorbeugungsmaßnahmen (preventive action) umgesetzt. Im Gegensatz zu anderen Qualitätsmanagement-Normen wie z. B. ISO 9001 geht es bei CAPA (ähnlich ISO 13485) nicht um einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess im Sinne der Produktverbesserung, sondern um ein Beseitigen von Abweichungen von Anforderungen, die auf den betreffenden geltenden Rechtsvorschriften und technischen Normen beruhen.

BBS-Kennzahlen

Verhaltensorientierte Arbeitssicherheit, auf Englisch Behavior Based Safety (BBS), ist kein reaktiver, sondern ein aktiver Ansatz, mit dem moderner und zeitgemäßer Arbeitsschutz umgesetzt und unterstützt werden kann. Der Safety Management Trend Report zeigt, dass immer mehr Unternehmen diesen Ansatz berücksichtigen und so versuchen, ein sichereres Verhalten und in diesem Sinne eine grundsätzlich verbesserte Arbeitssicherheit zu erzielen.

BBS basiert auf der Einbindung aller Mitarbeitenden (eines Teams) und der ständigen Beobachtung von sicherem Verhalten, entweder im Stil „Alle beobachten alle“ oder durch angekündigte Beobachtungen durch einzelne Personen. Diese prüft das Sicherheitsverhalten während der Arbeit und kann im Nachgang konstruktives Feedback geben. Durch BBS entstehen in der Regel eine große Menge an Daten: Eine Fundgrube für KPIs und Analysen, aber auch ein Grund, genau zu überlegen, welche Daten regelmäßig getrackt und ausgewertet werden sollten.

Mögliche KPIs zur Auswertung von BBS-Programmen:

  • die relative Anzahl der Beobachtungen an der Anzahl aller möglichen Beobachtungen

  • der relative Anteil des sicheren Verhaltens gemessen an allen Beobachtungen

  • der Anteil der Rückmeldungen von Beobachtungen an der möglichen Gesamtzahl oder der Anteil an durchgeführten Maßnahmen durch Vorgesetzte

  • die Anzahl der Mitarbeitenden, die in BBS geschult wurden

  • die Anzahl der sicherheitsrelevanten Verhalten, die definiert wurden

Bei so großen Datenmengen, wie sie durch BBS-Programm anfallen können, bieten Cloud-basierte Softwarelösungen einen großen Vorteil. Sie können unbegrenzt Daten speichern und die Informationen gleichzeitig strukturieren. Auf einem Dashboard werden die wichtigsten Ergebnisse in Form von Kennzahlen sichtbar gemacht - und somit auch der Erfolg Ihres Arbeitsschutzes. Um die Mitarbeitenden für die Umsetzung der KPIs zu gewinnen und zu begeistern, braucht es ihre Zustimmung, außerdem muss die Anonymität der Daten gesichert sein. Auch die Verarbeitung der Daten sollte dafür transparent gestaltet und die Sicherheit der Daten garantiert werden.

Ausblick

Es zeichnet sich ein deutlicher Trend zu proaktivem Arbeitsschutz ab. Moderne Ansätze wie Behavior Based Safety oder Safety II sind dabei eine bereichernde Ergänzung zu traditionellem Arbeitsschutz und bringen den großen Vorteil, dass sie rechtzeitig und präventiv und nicht erst später und zeitverzögert auf Probleme reagieren.

Durch proaktiven Arbeitsschutz etablieren sich auch proaktive KPIs, mit denen Sie Ihre Lagging Indikatoren sinnvoll ergänzen können. Die unterschiedlichen KPI-Typen sollten dabei möglichst einfach verglichen und ins Verhältnis zueinander gesetzt werden können. Eine direkte Gegenüberstellung traditioneller und moderner Kennzahlen hilft einzuschätzen, welche Auswirkung die Theorie auf die Praxis hat und was im jeweiligen Unternehmen wirklich dazu beiträgt, das Arbeitsumfeld sicherer zu gestalten.

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